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PROF. DR. JÖRG WIESEL DAS FACIALE: MODE, KOSMETIK UND GESICHT

Erste Überlegungen zu meinem Sabbatical von Juli bis Dezember 2024. 

Mehrwöchige Aufenthalte habe ich in Mailand und Turin, in Salzburg und Wien, sowie in Paris geniessen können, die den Kern der Fragestellungen meines Projekts einkreisten:

Das Projekt geht davon aus, dass sich in der Schweiz eine (in)differente kulturelle Praxis in der Ausbildung zur Bekleidungsgestalterin/zum Bekleidungsgestalter und im Bereich Mode-Design entwickelt hat, die anders als in Frankreich, Italien, Österreich oder Belgien zu einer sich erst langsam positionierenden gesamthaften Erscheinung der Schweizer Mode führt (Mode Suisse, seit 2012).

Wie liessen sich diese überaus komplexe und schwierige Hypothese und Möglichkeiten ihrer annähernden Untermauerung (oder Verifizierung) in relativ kurzer Zeit in eine operationalisierbare Untersuchung einfügen?

Zunächst war da die Ungebundenheit jenseits der täglichen Arbeit als Studiengangleiter. Schlicht und einfach: Ich habe beobachtet. In aller Ruhe konnte ich mir die Zeit nehmen, Menschen zu beobachten – sehr gerne auf grossen Plätzen, in Strassen, Restaurants oder in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Wie sehen Menschen aus, wie kleiden sie sich, mit welcher Sorgfalt und Selbstsorge gestalten sie ihr Äusseres?
Wie gehen sie mit ihren Haaren um, welche Frisuren tragen sie, sind sie geschminkt?
Sagt die Farbigkeit ihrer Kleider etwas über sie selbst aus?
Was sind Schuhe für die Menschen, was Accessoires, Taschen, Kopfbedeckungen?
Und ergibt das alles so etwas wie einen Look, der in Mailand ein anderer ist als in Wien oder Paris?

Es ging natürlich darum, nicht in gefährliche Fallen einer vermeintlichen National-Charakteristik zu tappen – gerade die europäische ModeTheorie und auch die kulturell je unterschiedlich verankerten Mode-Akademien waren voll davon. Aber in Zeiten einer markanten politischen Re-Ideologisierung des Nationalen konnte ich meinen Blick diesem Kontext nicht ganz verwehren. Giorgia Meloni greift in Italien massiv in die Kulturpolitik ein.

Am Tag der Reise von Salzburg nach Wien hat die Nationalratswahl in Österreich den haushohen Sieg der FPÖ unter Herbert Kickl hervorgebracht; während meines Aufenthalts in Paris hat ein Zusammenschluss (Misstrauensvotum) der Opposition aus linker „La France insoumise“ und rechtspopulistischem „Rassemblement National“ unter Marine Le Pen den Premierminister Michel Barnier gestürzt.

Der Wahlsieg Donald Trumps in den USA sei hier nur kurz angetippt. 

Wie also sind Menschen angelegt, wie bewegen sie sich im Hier und Jetzt, in unserer Gegenwart, die die oft akribische Suche nach dem Nationalen in eine zum Teil massive Kritik an demokratischen Institutionen (z.B. Gewaltenteilung) kleidet. Strömungen unserer Gegenwart versuchen dem Nationalen ein Gesicht zu geben.

Das führt mich auf eine erste Spur.

Nach ein paar Tagen in Mailand – ein Höhepunkt war die kleine Ausstellung „New Society“ zur performativen Arbeit von Miranda July in der Fondazione Prada im Milan Osservatorio – war ich für eine längere Zeit in Turin. 

Miranda July «New Society», Fondazione Prada, Milano, Sept. 2024 (Foto JW).

Zum Castello di Rivoli, einem Museum für zeitgenössische Kunst, ist es vom Zentrum Turins ziemlich weit, es liegt etwa 45 Minuten entfernt oberhalb des Städtchens Rivoli. Die Rückfahrt in die Stadt mit einem Bus, der fast ausschliesslich von Schüler:innen benutzt wurde, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Junge Frauen und Männer sahen fast alle gleich aus, vornehmlich schwarz gekleidet (Jeans und Bomberjacken) und stark darum bemüht, eine Binarität der Geschlechter sprachlich und körperlich zu inszenieren. Das Paradigma Mann vs. Frau entfaltet in der (italienischen) Öffentlichkeit augenscheinlich eine starke soziale Verankerung, das vermeintliche Aufs-Spiel-Setzen verbürgter Geschlechter-Performanzen bleibt aber ein Spiel und festigt gerade dadurch die Polaritäten. Offensichtlich legt die italienische Kultur grossen Wert auf Geschlechter-Oppositionen: Die jungen Frauen haben ausnahmslos lange Haare, die durch einen Mittelscheitel frisiert und häufig gefärbt sind. Meine genaueren Beobachtungen in die Gesichter der Mädchen stellten viele faciale kosmetische (plastische) Operationen fest; Nase, Kinn, Mund, Lippen und Augenbrauen folgten deutlich so etwas wie einem Ideal attraktiver, «schöner» Erscheinung. Und das in einem jugendlichen Alter weit vor der Volljährigkeit.

Ähnliche Beobachtungen zur Kosmetik des Gesichts habe ich in Wien und Paris gemacht, häufig bei Touristinnen jeglichen Alters. Ich möchte an dieser Stelle niemandem zu nahetreten – kosmetische Eingriffe haben natürlich je unterschiedliche persönliche Hintergründe, häufig verbirgt sich ein individueller Leidensdruck dahinter. Mir geht es aber hier um grundsätzliche Fragen zum menschlichen Körper, zum Gesicht und zu dem, was Mode und Mode-Design heute auch kennzeichnet. Und das führt mich zu einer zentralen These/Beobachtung während meines Sabbaticals: Das, was die europäische Mode und ihr Design spezifisch definiert, nämlich das Einkleiden des menschlichen Körpers in ästhetisch und avanciert gestaltete Materialien und Textilien, ist augenscheinlich in einer markanten Transformation in den Körper und sein Gesicht selbst eingezogen.


Mit anderen Worten: Die kulturell und historisch bedingten Semantiken und Definitionen von Mode (u.a. Schnitt, Silhouette, Form, Farbe) sind in die kulturellen, medizinischen und kosmetischen Körper-Praktiken übertragen worden.[1]

Mode artikuliert sich weniger durch Vestimentäres, als durch Kosmetik, Haare, Frisuren und Haarpflege.

Das, was Mode im vestimentären Sinne einmal war, ist in die körperliche Gestaltung (in die Gestaltung des Körpers) gezogen, hat sich transformiert. Dabei geht es mir nicht darum, kosmetische und chirurgische Eingri\e im Gesicht als trendy oder «modisch» zu bezeichnen – nein: Die vestimentäre Mode ist in das menschliche Gesicht gewandert. Und das hat sicherlich mit Praktiken des Digitalen, mit dem Gebrauch von Social Media zu tun. Denn hier ist ein Bruch, eine Transformation am Werk: Kosmetik (in einer Bandbreite von Crèmes bis hin zu Parfums) war immer schon starke ökonomische Basis aller ModeLabels, nicht nur im Luxus-Segment. Diese Kosmetik und deren Branchen meine ich nicht. Unterstützung meiner Beobachtungen und These habe ich in der Lektüre eines kleinen, erst kürzlich erschienen Büchleins von Andrea Köhler erfahren. Köhlers Buch «Vom Antlitz zum Cyberface. Das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Manipulierbarkeit» ist mir erst nach meiner Rückkehr aus Turin und Wien bekannt gewesen. Im Kontext «ästhetischer Chirurgie» spricht Andrea Köhler von einem signifikanten Verlust des Bezugs «zur realistischen Physiognomie»[2] in grossen Teilen der Bevölkerung. Leider trifft das jetzt ausführlich wiedergegebene Zitat auf meine Beobachtung der jungen Schülerinnen in Turin (und nicht nur dort) zu:


«Unter dem wachsenden Einfluss von jugendlichen Influencerinnen hat sich das Schönheitsideal selbst der Jüngsten zu einem sexualisierten Image verzerrt, in dem ein grotesk aufgeblasener Schmollmund, falsche Wimpern und hochgepolsterte Wangenknochen jeden individuellen Zug auslöschen. Es scheint, dass immer jüngere Frauen aussehen wollen wie jede andere auch.»[3]


Wie nehme ich diese Beobachtungen mit und wie verhalten sie sich zu Angeboten im Curriculum eines Studiengangs für Mode-Design in der Schweiz?

Zunächst plädiere ich für eine Schulung unserer Beobachtung / Wahrnehmung: Welche Rückschlüsse ziehen wir aus der Beobachtung von Menschen, aus ihrer Art, sich zu kleiden – und stimmt es, dass sich die Semantiken der Mode in die digital-kosmetischen und plastischchirurgischen Gestaltungen des Gesichts (und des Körpers) übertragen, überschrieben haben?

Wenn dem so ist, was ist dann Mode-Design oder ein spezifischer Gehalt von ihm heute, was heisst «Doing Fashion»?

Die Titelung unseres Studiengangs geht auf einen Text von mir aus dem Jahr 2009 zurück; im Rahmen des damaligen Diploms hatte ich im Beschreiben verschiedener Abschlussarbeiten den performativen Aspekt des Mode-Machens hervorheben wollen.[4] Haben wir nicht alle (immer noch) ein bestimmtes Ideal von Mode und Mode-Design im Kopf, ein Bild der Mode und der Menschen, die sie tragen?

Sicher, dieses Imaginäre (auch Ideal) der Mode und ihrer Körper und Verkörperungen strukturiert den Entwurf und das Design. Denn avancierte Mode holt die Person und Persona (die Maske auf dem Gesicht) eines Menschen erst hervor, bildet ihn, während Mode als Bekleidungsgestaltung häufig noch das im Menschen bestärkt, unterstreicht und ausdrückt, was er / sie (Binarität der Geschlechter) längst (charakterlich) ist. Aber das Reale des Menschen, die «Essenz unserer Humanität» (Andrea Köhler) ist die Empathie:

«Denn das Gesicht ist der Schlüssel zu der Fähigkeit, den Schmerz des Gegenübers als den eigenen zu erkennen.» [5]

Nicht nur den Schmerz des Gegenübers, auch sein Wohlbefinden: Fortsetzung folgt!

[1] Ozempic, die ursprünglich zur medizinischen Behandlung von Diabetes eingesetzte Spritze, hat sich inzwischen weltweit zum Mittel eines «optimierten», schlanken Körpers entwickelt.

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[2] Köhler, Andrea, Vom Antlitz zum Cyberface. Das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Manipulierbarkeit, Springe: zu Klampen 2024 (= Reihe zu Klampen Essay), S. 65.

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[3] Ebd. - Jessica DeFino («The Politics of Beauty») argumentiert ähnlich, ihre Kritik an der «Schönheits-Industrie» erreicht zunehmend ein breiteres Publikum: https://www.youtube.com/watch?v=iAJCKMZrZ_Q _ 18.12.2024.

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[4] Wiesel, Jörg, Doing Fashion, in: Diplomkatalog Institut Mode-Design HGK FHNW, Basel 2009, S. 17–20. 5 Köhler 2024, S. 119.

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[5] Köhler, Andrea, Vom Antlitz zum Cyberface. Das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Manipulierbarkeit, Springe: zu Klampen 2024 (= Reihe zu Klampen Essay), S. 119.